Vier Tage später – Sabbat
„Bitte sag mir, lieber Rabbi – was weißt du über den Messias, den Sohn Gottes?“
Der Sabbat-Gottesdienst war vorüber, die Synagoge hatte sich geleert. Vielleicht konnte Rabbi Nathan mir ja weiterhelfen in meinen Gedanken, die sich seit Tagen immer wieder im Kreis drehten (und nachts auch): Bei der Arbeit an Dans Feuerstelle, an Jakobs undichtem Dach, und an dem Tisch, den ich tatsächlich noch vor dem Fest fertig bekommen hatte – und auch beim Essen, mit Henoch am Brunnen, sogar beim Schlafen – falls von Schlaf überhaupt die Rede sein konnte!
„Ach, lieber Josef -“, Nathan breitete den Arme aus und seufzte – gleichzeitig waren rund um seine Augen viele Lachfältchen zu sehen: „wer kann schon etwas über den Messias wissen? Wenn unser Herr will, dass er kommt, dann kommt er!“
Das reichte mir nicht: „Aber die Propheten sagen doch eine Menge über ihn! Ich meine, manches kenne ich – aber richtig schlau werde ich daraus nicht. Vielleicht kannst du mir helfen, klarer zu sehen!“
Nathan nahm den breiten Gebetsschal von den Schultern, den er während des Gottesdienstes getragen hatte.
„Ja, manchmal sind die Propheten sehr klar!“ Auch den Gebetsriemen wickelte er von seinem rechten Arm ab, und nahm das kleine Gebetskästchen von der Stirn. „Wenn sie davon reden, was im Land und im Volk falsch läuft, wenn sie Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit verurteilen! Sie sagen, dass das böse endet – und so war es ja auch oft.“
Nun faltete er den Gebetsschal sorgfältig zusammen und verstaute ihn in einem Kasten neben dem Schrank, wo die Schriftrollen lagen.
„Aber, lieber Josef: wenn du genau wissen willst, was kommt – oder wer kommt, und wann – also, da kann ich dir auch nicht helfen. Auf jeden Fall gilt es, immer dafür bereit zu sein!“
„Na klar, deshalb ja auch der Extra-Becher Wein morgen beim Pessach-Festmahl, falls der Prophet Elia wiederkommt. – Aber: es ist doch nicht einfach Elia, oder?“
„We gesagt: wer weiß das schon? Du kennst doch sicher die Geschichte, wie Gott Elia mit einem Feuerwagen in den Himmel geholt hat, oder? Seither hoffen wir auf seine Rückkehr. Aber der Messias wird nicht mit Feuerflammen kommen, sondern ganz einfach auf einem Esel reiten – so sagt es der Prophet Sacharja. Ein König, aber einer ohne Reichtum und Pracht. Dafür einer, der den Menschen hilft!“
„Den könnten wir wohl gut brauchen …“
„Tja, bei Sacharja liest sich das so, als wäre er schon unterwegs: Freu dich, Tochter Zion, er kommt! Das steht da allerdings schon seit vielen Menschengedenken …“
„Steht nicht auch irgendwo, für Gott wären tausend Jahre wie ein Tag?“
Nathan lächelte. „Stimmt, das wäre eine Erklärung. Und manches braucht ja auch Zeit zum Wachsen: Ein kleines Kind ist nicht gleich ein erwachsener Mann, ein kleines Pflänzchen ist nicht gleich ein starker Baum … So ist das wohl auch mit Gottes Friedensreich, das anbrechen soll, wenn der Messias kommt.“
„Wo du gerade von Pflänzchen sprichst: der neue Spross aus der alten Wurzel Jesse …“
„Dachte ich mir doch, dass dich das interessiert – gerade wo du doch selbst einer aus Davids Stamm bist! Aber weißt du was? Zuhause warten Frau und Kinder auf mich – willst du nicht mitkommen, und wir reden beim Essen weiter?“
Ich willigte gerne ein. Bis zu Nathans Haus waren es nur wenige Schritte. Seine Frau Abigail empfing mich herzlich, die drei Kinder saßen schon am Tisch.
Wr beteten zusammen und aßen, da nahm der Rabbi den Faden wieder auf: „Also, du hast nach dem Spross aus Davids Stamm gefragt: Große Dinge sagt der Prophet Jesaja über seine Weisheit und Stärke, über seine Gerechtigkeit und Frieden ohne Ende!“
„Und er fängt als kleines Kind an …“
„Abe sicher, wie denn sonst?“, mischte sich Abigail ein.
„Hörst du, lieber Josef – meine Frau hat uns nicht nur köstlichen Fisch aufgetischt – jetzt will sie doch tatsächlich in Glaubensdingen mitreden!!!“
Tja – da kannte ich noch so eine!
„Habe ich etwa nichts zu sagen?“, lachte Abigail: „Ein kleines Kind ist doch wie ein Lichtblick; und dreimal habe ich erleben dürfen, was es bedeutet, guter Hoffnung zu sein – Gott sei Dank! Und auch das braucht einfach mal seine Zeit, bis das Kind geboren wird!“
Ihr Blick ging stolz über die beiden Töchter und den Sohn. „Um Hoffnung geht es doch, nicht wahr, mein lieber Nathan?“
„Da muss ich meiner Frau einfach Recht geben …!“ Kein anderer konnte auf diese Art gleichzeitig seufzen und lachen wie Nathan.
Als ich fürs Essen dankte und mich verabschiedete, fragte Nathan leise: „Mir kommt ja so einiges zu Ohren. Wolltest du wirklich über den Messias und die Propheten mit mir sprechen, oder über deine eigenen Sorgen?“
Immer dieser Tratsch in Nazareth! Aber klar: es fiel auf, dass Maria weg war; manche hatten sie mit den Händlern ziehen sehen, und auch Gabriels Besuch am Tag zuvor war alles andere als unauffällig gewesen.
„Und was, wenn meine Sorgen mit genau diesen Fragen nach dem Messias zusammenhängen?“
„Wie bitte?“ Nathan lachte. „Also mit Verlaub, lieber Josef: ich kann mir denken, dass du deine Maria vermisst. Aber von einer verschwundenen Braut sagen die Propheten nichts! Und von einem Fremden im weißen Gewand auch nicht!“
„Na schönen Dank auch – soll mir das jetzt etwa weiterhelfen???“
„Nichts für ungut, lieber Josef!“ Er klopfte mir auf die Schulter. „Und noch was: Falls wir etwa zu unseren Lebzeiten erleben sollten, wie der Messias geboren wird – dann nicht hier in Nazareth! Es heißt, er wird aus Bethlehem kommen!“
Aus Bethlehem. Meiner Heimat. War das nun eine beruhigende Nachricht oder nicht?
„Du siehst immer noch besorgt aus. Denk dran: Gott findet immer Wege, wie es weitergeht! Kennst du diese Psalmworte?“
Er nahm meine Hände und betete:
„Wirf dein Anliegen auf den HERRN;
der wird dich versorgen
und wird den Gerechten in Ewigkeit nicht wanken lassen.
Und nun, lieber Josef, wünsche ich dir ein gesegnetes Pessach-Fest!“