Unterwegs
Nur langsam kamen wir voran – aber immerhin: wir kamen voran!
Schon immer hatte ich gemerkt, wie viel Kraft in Maria steckte. Jetzt reichte sie ungefähr für eine Stunde Fußweg, dann mussten wir eine Pause machen; oder sie ritt ein Stück (was aber auch nicht besonders bequem war). Dann ging es wieder eine Stunde lang, wieder eine Pause …
Falls der Weg sie zu sehr anstrengte, versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen. Manchmal summte sie ihr Lied. Und immer wieder entdeckte sie unterwegs Lichtblicke: Die blühende Rose am ersten Tag, winterliche Sonnenstrahlen, eine schillernde Vogelfeder, eine freundliche Begegnung …
Wir trafen Menschen aus Judäa und Galiläa, die unterwegs zur Schätzung waren, reisende Händler mit Kamelen, berittene Römer …
Nach Herbergen mussten wir abends lange suchen: so viele waren unterwegs und brauchten Unterkunft. Manche Häuser waren verrammelt, weil die Bewohner selbst verreist waren. Und so würde es noch an vielen Tagen sein …
„Lass uns heute für heute sorgen, und die Sorgen für morgen sind morgen dran!“, schlug Maria vor.
Am fünften Tag fing es an zu regnen. Auf weitem Feld waren unsere Kleider bald durch und durch feucht – und es hörte nicht auf! Bis wir das nächste Dorf erreichten, waren wir nicht nur feucht, sondern durchnässt, und auch unser Gepäck hing nass und schwer an Henochs Seiten. Bei einem Schneider und seiner Familie kamen wir unter – aber warm wurden wir die ganze Nacht nicht!
Morgens musste ich husten und niesen. Sollten wir weiter oder noch einen Tag warten? Immerhin hatte der Regen aufgehört – also wagten wir es.
Die Wege waren schlammig und glitschig, unsere Füße mit Matsch bedeckt, das Vorankommen noch schwieriger als vorher. Plötzlich beneidete ich die Römer um ihre festen Straßen aus Stein!
Eine Erinnerung echote durch meinen Kopf: „Bereitet dem Herrn eine ebene Bahn, räumt Berge und Täler aus dem Weg!“ Als ich vom See Genezareth kam, war das gewesen.
Ich erzählte Maria davon: „Und irgendwann kam ich drauf, dass es bei diesem Ausgleich zwischen oben und unten ja auch um Menschen gehen könnte -“, und dann musste ich mit einem Hustenanfall kämpfen.
„Ach, mein armer Josef – wie heiser du klingst!!! Aber so ähnlich kam mir das auch in den Sinn: Gott richtet die Gewaltigen vom Thron und richtet die Niedrigen auf!“
„Dein Lied, ich weiß schon. Wie bist du eigentlich auf diese ganzen Gedanken gekommen?“
„Mir ging so viel im Kopf rum auf der Reise – und irgendwann bei Tante Elisabeth war so ein Moment, da wurde auf einmal alles ganz klar, ich weiß auch nicht – JOSEF!!!!! OH NEIIIIN!! Gaaanz ruhig, Henoch! Josef, kannst du aufstehen? Das hat uns gerade noch gefehlt!!!!!“
Henochs „Iiiih-aaaah“ klang kläglich. Irgendwie war er gestrauchelt, und ich mit ihm. Maria half mir, aufzustehen. Immerhin: es ging, auch wenn es weh tat. Einen blauen Fleck an der Hüfte würde es wohl geben. Und an der Hand blutete ich leicht – außerdem waren wir noch schmutziger!
Henoch lahmte am linken Hinterhuf. Maria redete ihm gut zu. Mühsam schleppten wir uns weiter. Und am Himmel hing schon wieder eine regenschwere Wolke.
„Da können wir uns vielleicht unterstellen!“, rief Maria endlich. Sie zeigte auf eine kleine Hütte, dicht umringt von einer Schafherde. Als wir näher kamen, sahen wir einen jungen und einen älteren Hirten. Ihre Gesichter sahen ähnlich grau aus wie der Himmel.
„Können wir uns eine Weile bei euch unterstellen?“, fragte Maria. „gerade können wir alle nicht mehr weiter!“
„Was macht ihr denn auch hier bei dem Wetter?“, brummte der ältere, und mit Blick auf Maria: „in dem Zustand solltest du nicht unterwegs sein!“
„Lass mich raten: Die Schätzung!“, meinte der jüngere.
„Genau. Wir müssen nach – haaaaAAA-TSCHIII!!!!“
„Schwanger, krank, ein lahmender Esel – ihr seid ja vielleicht eine Truppe …! Na kommt schon ans Feuer, ehe ihr euch den Tod holt!“
Sie boten uns Brot und Wasser an, wir steuerten Datteln und Oliven bei. Mit einer der Windeln aus unserem Gepäck verband Maria meine Hand. Aus einer zweiten machte sie eine Bandage für Henochs Huf. Die Hirten – Vater und Sohn namens Nahum und Baruch – hatten eine Salbe in ihren Vorräten. „Den Schafen hilft sie bei Verletzungen. Eurem Esel hoffentlich auch!“, erklärte Vater Nahum. „Ist ja wirklich kein Wetter, um draußen zu – nicht mal für uns, obwohl wir dran gewöhnt sind! Was sagtet ihr, wohin ihr unterwegs seid? Nach Bethlehem? Dann kommt ihr bald in ein Dorf. Geht dort am besten zu Eva. Ihr erkennt ihr Haus an einer hohen Zypresse. Sie ist heilkundig und hat immer wirksame Kräuter und Salben auf Lager – auch gegen deinen Husten. Aber wartet nicht zu lang, bald geht die Sonne unter!“
Tatsächlich war unter den Wolken schon ein gelblicher Schimmer am Himmel zu sehen. Der Regen hatte aufgehört. Wir dankten den beiden für ihre Hilfe – das heißt: Maria dankte ihnen; ich hustete und krächzte nur.
Mit Henochs Huf kamen wir nur schwer voran – noch dazu wurde das trübe Tageslicht bald immer schwächer. Und doch sprach Maria aus, was ich dachte: „Gott sei Dank, dass wir die Hirten getroffen haben! Musstest du auch an den Psalm denken?“
Leise sprach sie vor sich hin:
„Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.“
Sie atmete schwer, doch ihre Stimme klang zufrieden. Ich legte meinen Arm um sie, in der Hoffnung, dass uns das beide ein bisschen wärmte.
„Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.
Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.
„Amen“, krächzte ich.
Die Wolken am Himmel lockerten auf, die ersten Sterne waren zu sehen. Nach der übernächsten Kurve sahen wir die Lichter des Dorfes schimmern, und im letzten Abendschein zeichnete sich eine Zypresse ab, daneben ein Haus.
Wir klopften an.